Ethische Aspekte der Digitalisierung mit Blick auf ältere Menschen

Inputgeber

  • Prof. Dr. Manfred Hülsken-Giesler, Universität Osnabrück
    Mitglied der Sachverständigenkommission zum Achten ALTERSBERICHT
  • Prof. Herbert Kubicek

     

Input

Prof. Manfred Hülsken-Giesler nannte in seinem Input als Aufgaben der Kommission u.a.

  • Wichtige ethische Prinzipien und Kategorien mit Relevanz für digitale Technologienutzung im Alter explizieren.
  • Impulse geben für die Frage, wie ethische Prinzipien in Bezug auf die Nutzung digitaler Technologien durch Ältere zielführend und nachhaltig umgesetzt und evaluiert werden können.

Als grundsätzliche Kriterien für die Bewertung der Ist-Situation und von Maßnahmen zur Verbesserung nannte er Autonomy, Privacy, Beneficence, Non-maleficence, Interdependence, Justice, Explicability/Transparency. Diese sind jedoch sehr abstrakt und müssen daher kontextbezogen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene konkretisiert werden. Auf der Mikroebene geht es u.a. um Aneignung als Prozess, auf der Meso-Ebene in institutioneller Hinsicht um die Etablierung einschlägiger Instrumente und die Befähigung der Akteure, auf der Makroebene um normative Regelungen (z.B. Gütesiegel), Verteilungsgerechtigkeit (Digitale Spaltung), Befähigung und partizipative Technikentwicklung.

 

Kommentierung 

Prof. Herbert Kubicek beschränkte sich in seiner Kommentierung auf die Anwendung sowie auf die Nutzung digitaler Medien durch ältere Menschen und die so genannte Alterslücke, d.h. den Befund, dass der Anteil der Internetnutzenden in den verschiedenen Altersgruppen mit zunehmendem Alter abnimmt und bei den über 80-jährigen nur bei 10 bis 20 Prozent liegt. Daher sei ein großer Teil älterer Menschen von digitalen Möglichkeiten der Teilnahme und aktivem Altern ausgeschlossen. Denn nachweislich schätzen ältere Menschen die neuen Möglichkeiten der Kommunikation mit der Familie und Bekannten, insbesondere mit Enkeln über Soziale Medien, Information und Unterhaltung, Anregungen bei Hobbies und Erinnerungsarbeit, den Online-Einkauf u.a.m.. Telemedizin, Gesundheits-Apps, Videosprechstunden erreichen eine wichtige Zielgruppe so nicht.

In Bezug auf die im Input genannten Punkte „Befähigung“ und „Aneignung“ wies Prof. Kubicek auf zwei Herausforderungen hin:

Nach der herrschenden Auffassung in Politik und Wissenschaft ist die erwähnte Alterslücke vor allem ein Kompetenzproblem und kann mit altersgerechten Angeboten unter Beachtung der Erkenntnisse der Geragogik überwunden werden. Dabei wird übersehen, dass nach allen Umfragen der Hauptgrund für die Nichtnutzung in der subjektiven Überzeugung liegt, dass man das Internet im Alter nicht brauche und/oder es zu kompliziert sei. Medien sind Erfahrungsgüter, deren Nutzen man nur erkennen kann, wenn man sie benutzt. Beim Internet ist dazu jedoch die Anschaffung eines Geräts und der Abschluss eines Vertrags mit einem Provider erforderlich. Diese Investition tätigt man aber nicht, wenn man keinen Nutzen erwartet. Die Stiftung Digitale Chancen hat gute Erfahrungen damit gemacht, diese Vorurteile durch die Ausleihe von Tablet PCs mit Internetzugang über Senioreneinrichtungen mit einem wöchentlichen Betreuungsprogramm zu überwinden. Sie hat daraufhin einen Masterplan „Senioreneinrichtungen ans Netz“ entworfen,[1] um mit öffentlicher Förderung solche Leihprogramme in die Fläche zu bringen. Leider ist weder auf Bundes-, noch auf Länderebene bisher ein entsprechendes Förderprogramm zustande gekommen.

In diesem Zusammenhang ist eine zentrale ethische Frage, ob der Erwerb digitaler Kompetenzen allen älteren Menschen zumutbar ist. Sollen setzt Können voraus. Viele ältere Menschen können aufgrund körperlicher Einschränkungen entsprechende Einrichtungen nicht aufsuchen, sondern müssten selbst aufgesucht werden. Andere können sich aufgrund geistiger Einschränkungen die kompetente Nutzung nicht aneignen. Und es ist zu fragen, ob man einer 95-jährigen Frau auf dem Land zumuten kann, noch zu lernen, wie man online Medikamente bestellt oder einen Arzt konsultiert, weil die Apotheken und Arztpraxen geschlossen wurden.

 

Diskussion  

In der moderierten Diskussion wurden viele Aspekte angesprochen, die auf Kärtchen aufgeschrieben und am Ende mit Punkten nach ihrer Wichtigkeit bewertet wurden. Die höchste Punktzahl haben die Stichworte „Gutes Leben im Alter“, „Teilhabe“, „Daseinsvorsorge“, „Bildung für alle“ sowie „Zugang/Verfügbarkeit“ und auf einer ganz anderen Ebene „Algorithmen“ erhalten. Zu Gütesiegeln wurde angemerkt, dass diese nicht automatisch Vertrauen stiften, weil oft nicht transparent ist, wer sie nach welchen Kriterien erteilt. Dies dürfte für ältere Menschen in besonderem Maße gelten. „Algorithmen“ steht im Zusammenhang mit fehlender Transparenz.

In Bezug auf den Zugang wurde betont, dass es dabei nicht nur um den Breitbandausbau, also die technische Verfügbarkeit der Netze geht, sondern auch um die finanzielle Erschwinglichkeit von Geräten und Zugangsgebühren. Diese ist angesichts der bestehenden Altersarmut keineswegs für alle älteren Menschen gegeben. Der Regelsatz in der Grundsicherung für Nachrichtenübermittlung reicht nicht für einen Festnetzanschluss und einen Mobilfunkvertrag für ein Tablet oder Smartphone. Bei den Leistungskomplexen bei der Hilfe zur Pflege werden zwar analoge Hilfen bei der Begleitung zu Ämtern, zur Aktivierung und Unterhaltung erstattet, aber bis auf die Rahmenvereinbarung in Thüringen noch nicht die digitalen Äquivalente.

Prof. Kubicek empfahl der Kommission, sich auch mit den Grenzen der Befähigung und Aneignung und den daraus zu ziehenden Konsequenzen zu beschäftigen. In einem kleinen Pilotprojekt mit aufsuchender Digitalassistenz wurde festgestellt, dass die meisten Teilnehmenden trotz großen Interesses aufgrund von Gedächtnisproblemen auch nach dreimonatiger wöchentlicher Unterstützung nicht in der Lage waren, WhatsApp Nachrichten mit Fotos zu verschicken oder die Trefferliste bei Google richtig zu interpretieren. Für nützliche Anwendungen wie Online-Bestellungen oder Gesundheits-Apps brauchen sie keine qualifizierende, sondern eine dauerhafte stellvertretende Assistenz. Insgesamt sollten verschiedene Assistenzstufen unterschieden werden, die Art der Leistungen, Kriterien der Bedürftigkeit und geeignete Leistungsträger definiert und in die Regelungen zur Pflege aufgenommen werden.

[1]mdi.rlp.de/fileadmin/isim/Unsere_Themen/Landesplanung_Abteilung_7/Tag_der_Landesplanung/2018/Kubicek_Masterplan_fuer__Digitale_Teilhabe_70_.pdf