Digitales Fachgespräch

Sprachmittlung als Voraussetzung für gute Gesundheitsversorgung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte

10. März 2022, 17:00 bis 19:00 Uhr
Digitales Fachgespräch per
Zoom-Konferenz

Im Koalitionsvertrag hat sich die neue Bundesregierung die Lösung bekannter Versorgungsprobleme vorgenommen: Die Koalitionspartner halten dort fest, Sprachmittlung auch mit Hilfe digitaler Anwendungen im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung im SGB V zu verankern. Dieses Vorhaben begrüßen wir sehr.

Menschen mit Einwanderungsgeschichte sind einem höheren Risiko ausgesetzt, gesundheitlich nicht oder nicht ausreichend versorgt zu werden. Das belegen Forschungsergebnisse eindeutig. Die Isolation vieler Menschen während der Covid-19-Pandemie hat dieses Versorgungsrisiko weiter erhöht. Da Zugangsbarrieren zum großen Teil durch die fehlende sprachliche Verständigung verursacht werden, spielt die Sprachmittlung eine wichtige Rolle, um allen in Deutschland lebenden Menschen eine qualitative medizinische Versorgung zugänglich zu machen.

Jedoch fehlen bisher verbindliche, flächendeckende Lösungen für den Abbau der Sprachbarrieren im Rahmen der gesundheitlichen  Versorgung. In de, Fachgespräch wurden Fragen thematisiert wie:

- Wie kann man nachhaltige und verlässliche Strukturen sichern, um einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsleistungen für Menschen ohne ausreichende Deutschkenntnisse zu gewährleisten?

- Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die zivilgesellschaftlichen Akteure – insbesondere Migrant/innenselbstorganisationen?

- Wie soll die Verantwortung für diesen Bereich zwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund aufgeteilt werden?



Begrüßung


Dr. Gerhard Timm
Geschäftsführer der BAGFW

Die neue Fluchtbewegung, ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine, macht deutlich, dass das Thema Sprachmittlung weiterhin sehr aktuell ist. Sprachmittlung ist eine Voraussetzung für einen menschlichen Umgang mit Geflüchteten, jedoch gab es bisher keine bundeseinheitliche Lösung zur Finanzierung der Sprachmittlung. Die BAGFW und Migrant:innenselbstorganisationen setzen sich schon länger für eine adäquate Lösung ein. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, Sprachmittlung im SGB V zu verankern, was positiv zu werten ist.

Die Veranstaltung soll verschiedene Perspektiven zum Thema beleuchten, zeigen, wie es politisch aktuell verortet ist und welche Allianzen geschmiedet werden können - aber auch, die Zusammenarbeit von BAGFW und Migrant:innenselbstorganisationen mit Inhalten unterfüttern und stärken.

 

Ehsan Djafari
Verband für Interkulturelle Wohlfahrtspflege, Empowerment und Diversity

Sowohl die Corona Pandemie, als auch der menschenverachtende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und dessen Folgen zeigen in noch nie dagewesenem Ausmaß, wie wichtig die Sprachmittlung als Hilfeleistung zur Teilhabe ist und sein wird. Migrant:innenselbstorganisationen sind und bleiben wichtige Akteur:innen auf diesem Feld. Aus dem Grund ist es bedeutungsvoll, dass sie in die Umsetzung dieses Fachgesprächs eingebunden waren. Eine Allianz zwischen VIW und BAGFW kann für das Thema Sprachmittlung gewinnbringend sein.

 



Input

Prof. Thea Borde
Alice-Salomon-Hochschule Berlin

Migration, Diversität und Mehrsprachigkeit sind sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance und eine notwendige Entwicklung. Leider reagieren die Versorgungseinrichtungen darauf nicht angemessen responsiv. Die Sprachbarrieren in der Gesundheitsversorgung wurden bisher nicht systematisch erfasst. Die Sprachmittlung wird häufig spontan durch Laien (z.B. begleitende Familienangehörige, häufig auch Kinder) übernommen, was die Standards guter Kommunikation nicht erfüllt. Laut einer aktuellen Studie aus Belgien fand eine korrekte Übersetzung durch bilinguale Laien nur in 19% der Gespräche statt, es konnten auch negative Folgen einer unqualifizierten Sprachmittlung auf die Behandlung nachgewiesen werden. Die Qualität der Verdolmetschung wurde jedoch – so die Studie - durch alle beteiligten Personen unterschätzt. Aktuell wird in Deutschland in drei Geburtskliniken eine weitere Studie durchgeführt. Ergebnisse des qualitativen Teils zeigen, dass unzureichend gelöste Sprachbarrieren zu einer ungleichen Versorgungsqualität führen. Die medizinischen Fachkräfte befinden sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen professionellen Ansprüchen und pragmatisch zugänglichen Lösungen. Die Patient:innen fühlten sich schlecht informiert, ausgeliefert und diskriminiert. Eine weitere Studie aus Deutschland belegt, dass durch die Investition in Sprachmittlung Kosten vermieden werden können.

Prof. Borde plädierte für flächendeckende politische, institutionelle und strukturelle Maßnahmen zur Sicherung qualifizierter Sprachmittlung in Versorgungseinrichtungen – und damit für die Anpassung an Realitäten einer Einwanderungsgesellschaft.


Input

Dr. Ali Kemal Gün
LVR-Klinik Köln

Wenn keine ausreichende sprachliche Kommunikation erfolgt, kann keine Anamnese, keine Diagnose und in Folge keine Behandlung erfolgen. In der LVR-Klinik in Köln, in der im Jahr 2021 der Anteil der Patient:innen mit Migrationshintergrund 38% betrug, wird Sprachmittlung als Voraussetzung für eine angemessene Versorgung und als fester Bestandteil des Konzepts der interkulturellen Öffnung betrachtet. Dieses Konzept umfasst viele Maßnahmen, wie Erhebungen, Schulungen und weitere. Der Träger LVR-Klinikverbund finanziert zweckgebunden die Einsätze der Sprach- und Integrationsmittler:innen: im Jahr 2020 wurden beispielhaft 470.000 € für 5.500 Einsätze verwendet. Interne Umfragen haben ergeben, dass der Einsatz von Sprachmittler:innen sich positiv auf die Zufriedenheit der Patient:innen, aber auch der Mitarbeitenden auswirkt. Herr Gün konstatierte: Ohne Sprachmittlung ist eine Verständigung mit Patient:innen und somit eine angemessene Versorgung nicht vorstellbar.


Input

Dr. Peter Bobbert
Menschenrechtsbeauftragter der Bundesärztekammer und Präsident der Ärztekammer Berlin

Aus Sicht der Ärzt:innen kann ohne adäquate sprachliche Verständigung keine qualitative medizinische Versorgung erfolgen. Nach §§ 630e und 630c BGB besteht für sie eine rechtliche Verpflichtung, sprachlich verständlich zu informieren und aufzuklären. Sprachbarrieren führen zur Fehl-, Über- oder Unterversorgung und somit zu einer schlechteren Medizin. Der Deutsche Ärztetag hat seit 2015 regelmäßig auf die Bedeutung der Sprachmittlung hingewiesen und eine Kostenübernahme gefordert. Eine konsequente politische Antwort mit einer konstruktiven Lösung ist bis heute ausgeblieben. Auch wenn die Planung im Koalitionsvertrag von den Ärzt:innen dankbar zu Kenntnis genommen wurde, muss weiterhin auf eine Umsetzung eingewirkt werden. Im ambulanten Bereich besteht aktuell keine Möglichkeit, auf die Sprachbarrieren umfänglich zu reagieren. Die Dolmetscherdienste müssen ausgebaut und ins Versorgungssystem implementiert werden – auch mithilfe von digitalen Lösungen. Dafür ist eine einheitliche bundesweite Regelung erforderlich. Dabei darf die Scheu vor den Kosten kein Hindernis sein: die Sprachmittlung soll wie andere Therapien/ Medikamente betrachtet werden.


Input

Ulrike Wunderlich
Projektleitung SiSA - Sprachmittlung in Sachsen-Anhalt, Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA)

Kleinere interkulturelle Projekte sind zwar nicht die perfekte Lösung, aber in der Fläche wirksam: wie das Projekt SISA, finanziert über das Sozialministerium des Landes, welches seit 2015 als erste Sprachmittlungsstruktur in Sachsen-Anhalt besteht und ehrenamtliche Sprachmittlung in allen Bereichen der sozialen Teilhabe koordiniert. Die Forderung nach einer möglichst professionellen Sprachmittlung wird unterstützt, jedoch haben auch ehrenamtliche Modelle der Migrant:innenorganisationen ihre Berechtigung. Durch die durch das Projekt gewährleistete Koordinierung werden die Sprachmittler:innen sensibilisiert, sie bekommen die Grundsätze guten Dolmetschens vermittelt. Die Sprachmittlung hat für alle Beteiligte einen empowernden Effekt. Es gibt aber Grenzen der ehrenamtlichen Einsätze: Zum Beispiel übernehmen die im Projekt tätigen Ehrenamtlichen keine Verdolmetschung der Aufklärungsgespräche vor den Operationen. Auch kann keine engmaschige Fallbegleitung gewährleistet werden. In Sachsen-Anhalt gibt es jedoch bis jetzt keine anderen Lösungen.


Botschaften aus den Diskussionsbeiträgen:

Es kann nicht erwartet werden, dass komplexe medizinische Sachverhalte von Ehrenamtlichen verdolmetscht werden. Jedoch gibt es an vielen Standorten keine alternativen Lösungen.

In den letzten Jahren sind brauchbare Modelle der professionellen Sprachmittlung erarbeitet worden, jedoch scheiterte eine verlässliche und flächendeckende Umsetzung an der Finanzierung. Die Lösungswege über viele lokale, zum großen Teil ehrenamtliche Lösungen, wie bisher praktiziert, sind nicht mehr zeitgemäß.

Wichtig ist, dass die vorhandenen Strukturen, die in der Fläche aufgebaut wurden und sowohl Erfahrung als auch fachliche Kompetenz mitbringen, nach der Schaffung der gesetzlichen Grundlage nicht vollständig durch große Anbieter verdrängt werden. Jedoch dürfen ehrenamtliche Modelle kein Teil der systemerhaltenden Druckabwälzung sein.

Der Bedarf an Sprachmittlung ist so groß, dass verschiedene Ansätze/ Modelle ihre Berechtigung haben und parallel gebraucht werden. Der Vorstoß des Koalitionsvertrags ist ein guter Anlass, die Kräfte zu bündeln, um sich gemeinsam für eine politische Lösung einzusetzen.

Bei der Umsetzung ist es zudem wichtig, die Vielfalt der Sprachen zu berücksichtigen, und alle in Deutschland lebenden Migrant:innengruppen im Blick zu behalten.

Für die Umsetzung des Koalitionsvertrags müssen Kriterien geschaffen werden, für welche Behandlungen die Sprachmittlung über das SGB V finanziert wird.

Es muss zudem erwogen werden, was die Sprachmittler:innen in Hinblick auf die Fachsprache leisten müssen. Ist die Erwartung, dass Sprachmittler:innen im medizinischen Bereich alle Fachbegriffe kennen müssen, gerechtfertigt – oder darf vom medizinischen Fachpersonal eine verständliche Kommunikation auf Deutsch, die auch für deutschsprachige fachfremde Personen verständlich wäre, erwartet werden?

Darüber hinaus muss die Förderung der Mehrsprachigkeit stärker in den Blick genommen werden.

Auch müssen im Sinne der Patient:innenrechte Informationsstrategien über Ansprüche ausgebaut und Beschwerdemöglichkeiten erweitert werden, wenn Fehlversorgung stattgefunden hat.

Schulung der Fachkräfte bezüglich der Arbeit mit Sprachmittler:innen muss zudem mitgedacht werden – damit, wenn die gesetzlichen Ansprüche geschaffen werden, die Sprachmittlung flächendeckend und breit angewendet wird und keine Vorbehalte oder Unsicherheit des Fachpersonals dem Einsatz von Sprachmittler:innen im Wege stehen.

Trotz der verschiedenen Hintergründe und Perspektiven waren sich alle Mitdiskutierenden einig: eine strukturelle politische Lösung auf Bundesebene ist dringend notwendig!

 

Weitere Hinweise aus dem Publikum:

  • Initiative Bündnis für Sprachmittlung im Gesundheitswesen: im Rahmen des Projekts Transver wird eine Petition an die Politik für die Finanzierung der Sprachmittlung im Gesundheitswesen über SGB V gestartet, es wird eine Verbreitung über den Verteiler der Veranstaltung erfolgen

 

Weiteres Vorgehen:

Die AG (BAGFW + VIW) wird Kontakt zu den zuständigen Politiker:innen aufnehmen, um die wichtigsten Ergebnisse des Gesprächs an sie weiter zu tragen. In diesem Zusammenhang ist eine Folgeveranstaltung angedacht.